Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Ich begrüße Sie sehr herzlich, dass Sie den Weg hierher gefunden haben. Ich habe das Vergnügen
zum Thema die Vielfalt des normalen Ambiguität als Problem für das naturwissenschaftliche
Körperbild um 1900 zu sprechen. In meinem Vortrag möchte ich am Beispiel von Körpervermessung und
Körpertypologie aufzeigen, wie die klinische Medizin in den 1910er Jahren damit rang, den
vielfältigen und ambigen Körper naturwissenschaftlich zu zähmen. Die dargestellten Probleme bei
naturwissenschaftlichen Ordnungsversuchen ambiger Patientenkörper mögen zwar fast 100 Jahre alt
sein, bestehen aber in ihrer Grundproblematik bis heute fort. Das zeitlich abgegrenzte Beispiel
aus den 1910er Jahren, das ich darlegen möchte, verdeutlicht dabei das grundlegend schwierige
Verhältnis einer modernen Medizin mit einem ambigen Körper. Das möchte ich an fünf Punkten tun. Als
erstes möchte ich einen Patienten vorstellen, dann unter der Überschrift der Asteniker verschiedene
Vermessungs- und Typisierungspraktiken aufzeigen. Im Punkt 3, außerhalb des Rasters, möchte ich über
die Abgrenzung zwischen normal und pathologisch sprechen. Viertens Illusion der Eindeutigkeit,
diese problematisieren und unter fünftens das Problem der Ambiguität, eine Zusammenfassung und
Fazit ziehen. Als erstes möchte ich Ihnen einen Patienten vorstellen. Dieser Patient und sein
Körper sind geprägt durch unzählige Details. Er zeichnet sich aus durch eine einzigartige
Anatomie, Persönlichkeit und Lebensgeschichte. Er besitzt spezifische Anlagen, Vorerkrankungen,
Unfälle, ernährt sich auf eine bestimmte Art und Weise, wohnt, arbeitet, bewegt sich unter bestimmten
Bedingungen. Dieser Patient ist ein Individuum mit ganz eigener Geschichte. Je nachdem, mit was er beim
Arzt vorstellig wird, werden einzelne Details aus dieser großen Vielfalt herausgezogen und
erst mit Bedeutung aufgeladen durch die Thematisierung. Der Körper als solches ist zunächst Ambig.
Dieser Patient wird bei Dr. Bauer in der medizinischen Universitätsklinik Wien vorstellig.
Wann genau dies passiert ist, ist schwer zu sagen, wahrscheinlich zwischen 1910 und 1916.
Julius Bauer war zu dieser Zeit ein junger aufstrebender Assistenzarzt, noch keine 30,
und arbeitete an seiner Habilitationsschrift zum Thema die konstitutionelle Disposition zu inneren
Krankheiten, die 1917 erschienen. Dieses Werk ist wegweisend für die sich dann mit dem großen
Boom entwickelnden Konstitutionslehre. Die Konstitutionslehre beschäftigte sich mit dem Problem,
dass nicht alle Menschen gleich auf krankheitsauslösende Reize reagieren, zum Beispiel
auf Krankheitserreger, Bakterien. Wenn wir ein Beispiel nehmen, jetzt ist auch wieder Erkältungszeit,
manche Leute nehmen jeden Schnupfen mit, manche kriegen nie eine Erkältung den ganzen Winter lang,
obwohl sie den gleichen Erregern ausgesetzt werden. Das ist ein Problem, das die Konstitutionslehre
lösen möchte. Ein anderes wäre, manchen Leuten schlägt Stress auf den Magen, wiederum andere
bekommen Kopfschmerzen. Die Konstitutionslehre ist auf der Suche nach angeborenen Körperfaktoren,
die diese Reaktionen auf Krankheitsreize erklären können. Es gibt eine Konstitutionslehre in der
vormodernen Medizin, die dann sehr aus der Mode kommt und erst nach dem ersten Weltkrieg in den
1920er Jahren besinnt man sich wieder auf dieses große Forschungsfeld und es gibt eine Explosion
von verschiedenen Forschungsveröffentlichungen zu diesem Thema. Julius Bauer ist daran sehr aktiv
beteiligt, er ist einer der führenden Wissenschaftler seiner Zeit in der Konstitutionslehre. Über
Julius Bauer wissen wir relativ viele. Es gibt eine gute Quellenlage und Bauer hat auch eine
Autobiografie geschrieben. Bauer war Österreicher, er hat in Wien Medizin studiert und dort dann auch
als Internist an der medizinischen Universitätsklinik gewirkt. Außer zur Konstitutionslehre veröffentlichte
er hauptsächlich zu Endokrinologie, also Hormonforschung und Vererbungslehre, was beides
auch Felder sind, die in dieser Zeit ganz besonders wichtig sind und wegweisend in der Forschung. 1938
von den Nazis als Jüdisch verfolgt, emigriert er mit seiner Familie in die USA, wo er an verschiedenen
Universitäten lehrte. Allerdings kann er wissenschaftlich nicht mehr wirklich Fuß fassen,
was ja auch vielen anderen Exilanten in den USA so ging. Er starb 1979 hochbetagt in Kalifornien.
Sie sehen, über Julius Bauer wissen wir relativ viel. Über unseren Patienten hier im Bild wissen
wir so gut wie nichts. Sie sehen, dass sein Bild nicht anonymisiert ist, das war zu der Zeit nicht
unbedingt üblich. Aber er hat das Privileg, nicht komplett nackt abgebildet zu sein. Das kann man
von den anderen Beispielen in dem Buch nicht behaupten, sie sind normalerweise immer nackt
Presenters
Dr. Nadine Metzger
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:48:08 Min
Aufnahmedatum
2013-11-13
Hochgeladen am
2013-11-18 12:20:02
Sprache
de-DE
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts möchte die moderne Medizin den an sich ambigen menschlichen Körper naturwissenschaftlich fassbar machen. Dazu bedient sie sich u.a. Vermessung und Typisierung, früher mit Hilfe der Anatomie, heute der Genetik. Doch das Eindeutig-machen von Körpern, das Definieren und Abgrenzen, ist schwierig und kann nie wertfrei geschehen. Naturwissenschaftlichkeit wirkt auch als Label, um die Deutungsmacht der Medizin in der Moderne zu rechtfertigen. Der Vortrag behandelt das Grundproblem naturwissenschaftlicher Ordnungsversuche des Körpers am Beispiel von Körpervermessung und -typisierung Anfang des 20. Jahrhunderts.